Staub
Der Anfang einer Erzählung, zu der mir kein Ende einfällt. Vorschläge werden gern angenommen...
Welchen Sinn ergab es, einen Stapel Bücher von einem Tisch weg- oder aus einem Regal herauszunehmen, um darunter Staub zu wischen? Der Staub dieses Stapels lag doch auf und nicht unter ihm? Aber so wurde es eben gemacht. Man nahm etwas weg, putzte das, was sich darunter befand, und setzte, stellte, legte das, was man vorher weggenommen hatte, wieder an seinen, nunmehr wie vorher sauberen, Platz zurück. Der Vorgang des Wegnehmens und Wiederhinstellens mag natürlich auch zumindest einen Teil des auf dem bewegten Gegenstand befindlichen Staubs entfernt haben; der Luftzug wird die Staubkörnchen ein wenig durchwirbelt und ein paar Zentimeter in die Luft gehoben haben, wo sie sich, zuerst mehr der Flieh-, dann mehr der Schwerkraft gehorchend, neu formiert nach einer langen Weile wieder niedergelassen haben werden auf dem unterhalb ihnen am nächsten gelegenen Gegenstand - durchaus auch wieder auf dem Bücherstapel. Auch mein Körper belegte sich mit Staub an diesen Tagen, an denen ich mich kaum bewegte, und wenn, dann langsam, so langsam, dass es gewollt und bedächtig wirkte, wie bei einem, der etwas sehr behutsam und vorsichtig tun musste, um keinen Schaden anzurichten, oder wie bei einem, der bei schlechter Gesundheit war und dem schnelle Bewegungen Schmerzen zufügten. Ich bewegte mich aber langsam einzig aus dem Grund, weil es nichts gab, das schnell getan werden wollte oder musste. Etwas langsam zu tun ließ Zeit verstreichen – Zeit, von der ich mehr als genug hatte, Zeit, die stumm danach verlangte, ausgefüllt zu werden. Für einen Moment dieser Zeit fand ich Gefallen an der Vorstellung, dass mein Körper unablässig unter einem feinen, unsichtbaren Staubregen stand, dass sich, während ich irgendwo saß oder lag, mehr und mehr Staubkörner, winzigste organische und anorganische Partikel und möglicherweise ganze Stämme der in Staub lebenden und gedeihenden Kleinstlebewesen auf mir niederließen, sich ihren Platz suchten, dort ausharrten, solange, bis ich mich wieder einmal kurz bewegte und sie desgleichen tun mussten, kurz hinauf in die Luft und dann wieder herunter auf meinen Menschen, der ein guter Platz war für Staub und für all das, wozu sich in Ruhe gelassener Staub im Laufe der Zeit entwickeln mochte.
Auch rauchte ich. Denn auch das Rauchen, dem langsame, ruhige, gleichförmige Bewegungen eigen waren, ließ Zeit vergehen, und auch das Rauchen ließ Staub entstehen, Staub, der ganz mir gehörte, der, bevor er in meine Umgebung gelangte und sich dort mit dem schon vorhandenen Staub paaren konnte, seinen Weg durch mich, durch meine Lungen genommen hatte, den ich aufbereitet hatte, den ich vermengt hatte mit Molekülen meines Körpers, bevor ich ihn hinausblies. Dieser Staub trug meinen Namen, er gehörte mir allein und war mir der liebste. Nie öffnete ich während des Rauchens ein Fenster, um zu verhindern, dass das, was ganz meines war, sich hinausverflüchtigte, draußen ein Eigenleben begann, und mir auf ewig fehlen würde. Er blieb in meiner Wohnung wie ich. Bei dem Gedanken, kurz vor die Tür zu gehen und dort ein Namensschild „Ich und mein Staub“ aufzuhängen, musste ich kurz lächeln. Draußen in der Welt war das Rauchen verpönt, diese Volkskrankheit Nr. 3, weit abgeschlagen hinter der Dummheit und dem Alkoholismus. Man hatte aus strategischen Gründen aber dem Nikotingenuss den ersten Platz im Feindesland eingeräumt und zelebrierte seine Bekämpfung entsprechend. In der Sicherheit meiner Wohnung war mir das gleich. Ich rauchte nicht, um zu provozieren oder irgendjemandes Gesundheit zu schädigen. Und meiner eigenen Gesundheit konnte das Rauchen nicht mehr Schaden zufügen als das Nichtrauchen, denn es beruhigte mich, beschäftigte mich; es tat mir gut, denn es ließ meine Zeit verstreichen.
Fast unbeweglich lag ich also auf meinem Bett, betrachtete die blaugrauen Qualmfäden, die von der Spitze meiner Zigarette zur Zimmerdecke hinaufwanderten, blies ihnen hellgraue, dichte Rauchwolken hinterher und spürte fast, wie der Staub nach einer Weile wieder auf mich hinunterkam, ähnlich jenen feinsten Sommerregen, die man kaum auf der Haut spürt und die dennoch innerhalb kürzester Zeit den Körper ganz durchnässen.
Meine Wohnung lag im Erdgeschoss eines zehnstöckigen Mietshauses, welches das von der Straße aus am weitesten hinten gelegene in einem Wohnblock war, den man in den frühen siebziger Jahren am Stadtrand erbaut hatte. „Wohnpark“ war damals und bis heute die schönfärberische Bezeichnung dieses aus gut zwanzig Hochhäusern bestehenden Betonmonsters, von dem sensible Seelen glauben mochten, dass es ein Eigenleben hatte und sich nachts unmerklich millimeterweise bewegte, wie tektonische Platten unter dem Meeresgrund. Man hatte den Block 1971 in nur neun Monaten in Billigstbauweise hochziehen lassen, um den Massen von immigrierenden Arbeitern aus ärmeren südlichen Ländern, denen im nahegelegenen, damals noch florierenden Industriegebiet Stellen zugesagt waren, Wohngelegenheit bieten zu können. Sie kamen zu Hunderten und waren dankbar. Dankbar für die schmutzige, sinnleere, mittelmäßig entlohnte Arbeit am Fließband, in der Stahlfabrik, im Kohlebergwerk, dankbar für die kleinen, dünnwandigen, kalten Wohnungen in den grauen, lauten, großen Häusern, dankbar, dass sie sich von ihren Familien hatten trennen dürfen, um ihnen statt ihrer Anwesenheit die Anwesenheit von Geld zu bieten, mit der irren Hoffnung im Herzen, sie damit zufriedener machen zu können, als sie es vorher gemeinsam waren.
Inzwischen war die hohe Zeit vorüber, der Industrieboom etwas, das man mit Kindern in Geschichtsunterrichtsstunden besprach, und im Wohnpark, dem mit einem wirklichen Park nur der Name verband und die Eigenschaft, dass eine vordefinierte, abgegrenzte Fläche einem bestimmten Zweck zugeführt wurde, standen viele Wohnungen leer; in denen, die noch bewohnt waren, lebten arme Menschen, einsame alte Männer oder alleinerziehende Frauen mit kleinen Kindern, die man bisweilen sah, wie sie Bälle gegen die abbröckelnden Wände kickten oder durch die grauen Flure streiften, auf der Suche nach Abenteuern, die es hier nicht gab und auch nie mehr geben würde.
Im hinteren Haus wohnte ich also, in der Mitte des Erdgeschosses, auf der linken Seite des schlecht beleuchteten Flurdurchgangs, in einer kleinen Wohnung, deren linke und rechte Nachbarwohnung leer stand. Wenn ich durch die rückwärtigen Fenster meiner Wohnstatt blickte, konnte ich den Förderturm der aufgelassenen Kohlezeche sehen, der nun seit Jahren verrostete und verrottete, ebenso wie die anderen Zechengebäude auf dem mit einem hohen Drahtzaun versperrten Gelände, denen kein Sinn und kein Zweck mehr innewohnte, und die sogar zu alt und zu marode waren, um zu Wohnhäusern umfunktioniert zu werden oder zumindest noch als Industriedenkmal Verwendung zu finden. Sie standen einfach dort und man ließ sie stehen wie den Stumpf eines umgeschnittenen Baumes, den auszugraben sich niemand die Mühe machen wollte. Denn so, wie der Stumpf eines Tages auch ohne menschliches Zutun vollständig vermodern und wieder zu Erde werden würde, würden auch die Gebäude irgendwann in sich, in nichts zusammenfallen. Dann würde man vielleicht die Trümmer abtransportieren, den Zaun abmontieren, und der Kreis hätte sich geschlossen. Tatsächlich aber wartete darauf niemand. Wenn man hier war, am Ende der Stadt, am Ende des Wohlstands, am Ende von allem, wartete man auf nichts mehr.
(...)
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